Unsichtbar #fluchtgeschichten

30. Oktober 2015 | By | 1 Comment

Adeduro Adeleke schaut in den Spiegel. Er findet, er sieht gut aus. Die kleinen Locken kringeln sich schwarz und gleichmäßig auf seinem Schädel, die vollen Lippen sind gleichmäßig, die Wangen sanft geschwungen. Seine Augen haben ein tiefes Schwarz, in dem Vertrauen schimmert. Vertrauen in die Welt, in der er nun endlich angekommen ist. Er steckt seinen Finger in die weiße Creme, die ihm die ältere Dame mitgebracht hat, und trägt eine Fingerspitze voll auf seine dunkle Haut auf. Er verreibt sie, sie dringt ein und hinterlässt einen leichten Schimmer.

Adeduro lächelt sich an. Es steht ihm super, das knallig weiße Hemd, das die Dame namens Hildegard ihm geschenkt hat. Sie hat schlohweiße Locken und ein faltiges Gesicht, und so gut wie immer ein warmes Lächeln. Zwar spürt Adeduro jedes Mal einen Stich, wenn sie ihn ansieht. Er weiß nicht genau, warum. Sie tut nichts Böses, im Gegenteil. Sie lächelt und spricht ihn auf Englisch an, sie reicht ihm Geschenke, Dinge zum Essen und zum Anziehen, und doch trifft sie immer wieder sein Herz wie ein kleines spitzes Messer.

Adeduro ist 17 Jahre alt, ein gut aussehender junger Mann. Er ist schlank, 1,80 Meter groß, seine Hüften findet er selbst fast am besten, gleich nach dem schiefen Grinsen, das er immer wieder in dem Badezimmerspiegel der Unterkunft übt. Er ist alleine in diesem Land. Doch er wird nicht alleine bleiben. Dessen ist er sich ganz sicher. Er kann mithalten mit diesen jungen Männern, die er draußen gesehen hat. Eine dicke schwere Sehnsucht hat sich in sein Herz gelegt bei ihrem Anblick.

Sie stehen in dem kleinen ordentlichen Park gegenüber vom Rathaus in diesem Ort namens Pullach, in Grüppchen. Drei, vier, fünf junge Kerle, in seinem Alter. Sie wären die idealen Freunde für ihn. Doch er kennt sie nicht. Soll er sie ansprechen? In seinem schrecklichen Englisch? Was soll er sagen? Er wird sie ansprechen, irgendwann. Wenn es soweit ist. Diese Weisheit hat seine Mutter ihm auf den Weg mitgegeben. Wenn es soweit ist. Dann werde all das geschehen, was er sich wünsche und was sie sich für ihn wünsche. Dann würden die Muslime es nicht mehr wagen, Christen zu ermorden. Dann müssten Mütter nicht mehr ihre Kinder wegschicken in ein fremdes Land, damit sie überleben. Dann, dann.

 

Natürlich werde er gehen, hatte er zu seiner Mutter gesagt, und in sich eine kleine Abenteuerlust gespürt. Er war jung, er sah gut aus, er war stark. Er würde ohne Probleme aufbrechen nach Europa, dazu brauchte er niemanden, keine Mutter, keinen Vater. Asyl. Das Wort musste er lernen. Asyl. Und dann würde alles seinen Gang gehen, sich finden, nicht von heute auf morgen. Wenn es soweit war eben. Er freute sich. Riesig.


Auch die Hose war neu, eine Jeans, sagte Hildegard, mit weißen dicken frechen Nähten auf dem Hintern. Adeduro drehte sich vor dem Spiegel, so dass er sich von der Seite sah. Dazu ein kleines cooles Grinsen. Hey, da konnte doch wohl keine widerstehen, keine von diesen blondhaarigen Gazellen, die sich immer um die Gruppe der Jungen im Park scharte. Sie trällerten und blinzelten und das Einzige, was Adeduro gelingen müsste, wäre, in ihr Blickfeld zu geraten.

Hildegard stattete ihn so gut aus. Auch Schuhe hatte sie für ihn gekauft, genau in seiner Größe. Er sah sowas von fein aus. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen gegenüber Isaak, seinem Landsmann, den er in der Pullacher Unterkunft kennengelernt hatte. Auch er war alleine da. Er zog heute ein gelbes T-Shirt an. Eine schwarze Hose. Sie schauten sich gegenseitig an und schlugen die Handflächen aneinander. So können wir nur siegen, sollte das heißen.


Sie würden heute wieder ausgehen, so wie sie es schon zwei-, drei Mal gemacht hatten, seit sie hier angekommen waren. Man hatte ihnen so vieles eingeschärft in der Unterkunft. Leise sein, dankbar sein, andächtig sein. So jedenfalls hatten sie es verstanden, was diese ewig lächelnden Damen ihnen mit auf den Weg gegeben hatten. Willkommen seien sie, willkommen, aber von ihnen werde eben auch etwas erwartet dafür. Zumindest ein Respekt. Für die hiesige Lebensart. Die Lebensart der Reichen. So kam es in den Köpfen von Adeduro und Isaak an.

Sie würden sich an alles halten. Sie würden die heiligen sauberen Straßen entlanggehen und nur flüstern, sie würden all das Geschrei und das Chaos aus ihrem armen Land vergessen. Sie würden die nagelneuen und wohlriechenden Textilien mit ihren Körpern spazieren führen, sie würden den Ort auf sich wirken lassen. Seine frisch gekehrten Straßen, seine frisch gestrichenen Häuser mit frisch gedeckten Dächern, seine von Künstlern gemalten Blumen in bunten Zaubergärten. Sie würden mit jedem Atemzug diese Aura einsaugen, die Werte, die dahinter steckten, die unbegrenzten Möglichkeiten, die von der makellosen Kulisse verkörpert wurden, sie würde in ihre Poren eindringen und mit jedem deutschen Wort, das sie zu sprechen lernten, würde eine neue Wahrheit von ihnen Besitz ergreifen. Dafür waren sie offen. Kein Problem. Sie waren ja jung, sie waren veränderungsfähig, sie würden die Farbe dieses Landes annehmen, es würde auf sie abfärben, ihre Dankbarkeit würde eine Brücke bauen zu denen, die hinter den frischen Fassaden wohnten, sie waren ja noch im Wachstum begriffen. Sie würden wachsen wie die grünen Ranken um die geschwungenen Fenster und sie würden Früchte tragen, neue Früchte, deutsche Früchte, nicht mehr nigerianische. Ein neues Klima brachte neue Gewächse hervor. Nicht mehr sie trockene Sonnenhitze nahe dem Äquator, die müde machende Stickigkeit, sondern die feuchte Kühle des Mitteleuropäischen. Sie waren 17, ihre Zellen veränderten sich noch, hatten noch nicht ihren endgültigen Zustand erreicht. Sie hatten hier alle Chancen. Alle. Der Jugend gehört die Welt. Den Gutaussehenden erst recht.

Isaak wartete vor der Tür der Unterkunft. Sie lag genau neben einem Kindergarten. Oder einer Schule? Sie hatten es nicht genau verstanden. Sie dürften sich jedenfalls keinem dieser Kinder nähern, das hatten sie verstanden, diese Kinder waren auf eine Weise heilig. Das war kein Problem. Sie hatten ja ganz andere Ziele. Es war ein fast nigerianischer Abend heute, so heiß, so lau, obwohl das Abendessen schon eine Weile her war. Sie sollten nicht zu spät zurückkommen und keinen Unsinn machen, hatte eine lächelnde Dame ihnen mit auf den Weg gegeben. Die Lächel-Mütter, so nannten sie sie heimlich.
Sie wollten dahin, wo die deutschen Jugendlichen waren. Einfach mal vorbei schlendern, dann würde schon was gehen. Daheim war das so gewesen, man sah sich, man ging aufeinander zu, man machte was. Namen sagen, das reichte. Das konnte doch hier nicht viel anders sein. Nicht bei so gutaussehenden Jungs wie Adeduro und Isaak. In weißem Hemd und gelbem T-Shirt, vom Himmel gefallen in die Pullacher Straßen. Zum Greifen nah.

Ihre Herzen klopften zum Zerspringen, als sie in die Straße einbogen, die direkt zum Park führte. Sie sahen von weitem, dass noch niemand dort war. Doch, da. Nur ein einziges von diesen Mädchen, es saß auf der Bank. Isaak stieß Adeduro mit dem Ellbogen in die Rippen.

Sie gingen betont langsam auf den Park zu, so wie zwei einheimische Spaziergänger am Abend. Sie liefen den Weg entlang, der genau an der Bank vorbei führte, Adeduro schwenkte seinen Hintern mit den Nähten drauf, Isaak grinste aus dem gelben T-Shirt und tat so, als sei er in ein sehr wichtiges Gespräch mit Adeduro vertieft. Doch aus den Augenwinkeln achteten beide genau auf das Mädchen. Es würde sie sehen. Und dann, wenn es soweit wäre…sie waren gönnerhaft dem Freund gegenüber. Wer Erfolg hätte, dürfte sie haben. Das raunten sie sich gerade in ihrer Sprache zu, als drei weitere Mädchen auftauchten.

Sicher lag es an den Neuankömmlingen, dass das Mädchen auf der Bank sie vollkommen übersah. Seine Augen streifen keinen von beiden, obwohl sie dicht vor der Bank vorbei gingen. Natürlich, weil sie ihren Freundinnen winkte, die an der Ecke auftauchten. Adeduro und Isaak drehten noch eine Ehrenrunde um den Park, bis die neuen Mädchen sich um die Bank geschart hatten. Sie holten Zigaretten raus, zündeten sie sich gegenseitig an.
Hatten sie wirklich so spannende Gespräche? Sie schauten kein einziges Mal in die Richtung von Adeduro und Isaak, die ganze Zeit nicht. Auch nicht, als die beiden sich auf einer anderen Bank niederließen. Zu dumm, dass sie keine Zigaretten dabei hatten. Vielleicht hätten sie die Mädchen um welche bitten können, doch die Raucherinnen schienen gar nicht wirklich zu existieren. Diese Mädchen waren eine Halluzination, sie mussten eine sein, denn keines von ihnen hatte auch nur einen einzigen Blick zu ihnen geworfen. Nicht mal einen versehentlichen, einen bösen, einen abweisenden.

Sie sahen sie nicht!

Die Wesen mit blonden und braunen und roten Haaren waren Fische in einem Aquarium, hinter einer Glasscheibe. Sie schwammen munter hin und her und plapperten miteinander, doch sie konnten nicht durch die Scheibe nach draußen sehen. Sie konnten nur angeschaut werden, jede Kontaktaufnahme war ihnen offenbar unmöglich. Gab es etwa auch hier eine Scharia, unsichtbare Schleier, die weibliche Wesen von männlichen abschotteten? Das hatten sie nicht gewusst, aber es musste so sein. Isaak sagte genau das, was Adeduro dachte. Aber das sind hier doch alles Christen, oder? Zwei Planeten gab es in dem Park vor dem Pullacher Rathaus an diesem Abend. Einen nigerianischen Männerplaneten auf der einen Bank, einen deutschen Frauenplaneten auf der anderen. Schade, dass die Welt hier auch nicht anders ist, meinte Adeduro gerade, als plötzlich die jungen Männer auftauchten, die sie schon vom Sehen kannten. Drei junge Kerle, sie mussten in ihrem Alter sein. Die Mädchen schrien und winkten bereits, als sie nur um die Ecke bogen. Eine lief ihnen entgegen, warf sich einem von ihnen um den Hals, küsste ihn links auf die Wange, rechts auf die Wange. Auch alle anderen Mädchenblicke waren jetzt genau dorthin gerichtet, wo die jungen Männer auftaucht waren. Die Fische im Aquarium waren lebendig geworden.

Adeduro und Isaak schauten sich fragend an. Dann schöpften sie Hoffnung. Beide gleichzeitig. Natürlich, Mädchen. Auch wenn es christliche Mädchen waren, so waren sie eben doch Mädchen. Nur über die Jungen könnten sie Kontakt aufnehmen, war ihnen mit einem Mal klar. Sie schauten nun auch den männlichen Ankömmlingen erwartungsvoll entgegen. Doch auch diese verwandelten sich beim Näherkommen in Fische. Auch um sie herum bildete sich eine Glasscheibe, durchsichtig aber undurchdringlich. Auch ihre Augen wurden wässrig und hell, als wären sie blind.

Waren sie blind?

Adeduro und Isaak standen beide gleichzeitig auf. Sie sprachen nicht mehr, aber sie dachten dasselbe. Sie saßen auf dieser Bank in der Ecke des Parks, das ging gar nicht, sie mussten sich zeigen, näher treten. Sie standen auf und schlenderten, zuerst in einem großen Bogen um die Wiese herum. Adeduros weißes Hemd und Isaaks gelbes T-Shirt mussten den Pullacher Jugendlichen in die Augen stechen. Die Nigerianer zogen ihren Kreis enger und immer enger, sie kreisten die Einheimischen ein, waren jetzt nur noch Meter von ihnen entfernt, doch sie ernteten keinen einzigen Blick. Die Aquariumsbewohner waren aufeinander fixiert, sie plapperten nur miteinander und blickten nur einander an. Adeduro und Isaak kamen immer näher, sie schritten auf ihren nagelneuen Turnschuhen und in ihren leuchtenden Hemden und mit ihren verführerischen Figuren voller männlicher Muskeln, mit ihren großen braunen Kullerblicken mitten in sämtliche Blickrichtungen hinein, sie kreisten immer enger, sie spazierten über die Zehenspitzen der jungen Leute und über ihre ebenso neuen Turnschuhe, sie gingen durch sie hindurch, ohne sie zu berühren, ohne Widerstand, die Mädchen und Jungen sprachen weiter, doch nur miteinander, sie bemerkten die Nigerianer nicht, nur Sekunden vor dem Körperkontakt verwandelten sich die jungen Deutschen in geisterhafte Wesen, Sinnestäuschungen wie Oasen in der Wüste, sie waren da und doch nicht, sie umschwebten und umschwirrten Adeduro und Isaak, ihre Stimmen flogen um sie herum, doch sie hatten andere Adressaten: sich selbst.

Adeduro und Isaak fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie waren in einem Geisterland gelandet. Einem Land, das gar nicht existierte. Einem Land, von dem sie nur träumten, einem Land voller Unwirklicher, voller Unechter. „Willkommen“ stand auf einem großen Transparent in der Unterkunft, doch es war so transparent wie Luft. Alles hier war Luft. Die Puppenhäuser-Straßen, die ihre Füße einluden, darauf zu spazieren. Das Haus, in dem viele Pritschen für sie aufgestellt worden waren. Auch die faltige Dame Hildegard und die Lächel-Mütter mit ihrem bruchstückhaften Englisch und die Anzug-Männer, die mit großem Tross vorbeikamen und Luftblasen blubberten. Die Geschäfte mit den glänzenden Regalen und die Restaurants mit ihren glänzenden Menschen. Die blühenden Gärten hinter den Zäunen, die frisch in Rosa und Türkis gestrichenen Hauswände. Nur die Messer-Spitze, die Adeduro in seinem Herzen spürte, wenn Hildegard ihn mit ihren gelben Zähnen anbleckte, die war echt. Und das Heimweh, das er dann nach seiner Mutter hatte.

(Vielen Dank an Claudia Wessel für diese Geschichte als Beitrag zur Blogparade #fluchtgeschichten)

© Max Kratzer

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